Notker Balbulus

Hymnenbuch
Vorrede

[N.02]

SPRACHE

Deutsch

Als ich noch ein junger Mensch war und die überlangen Melodien, so oft im Gedächtnis eingeprägt, aus dem unbeständigen Herzelein wieder entrannen, fing ich im Stillen zu überlegen an, welcher Art ich sie wohl festbinden könnte.

In dieser Zeit geschah es, daß ein Priester aus dem kürzlich von den Normannen zerstörten Jumièges zu uns kam und sein Antiphonar mitbrachte, worin eine Art Verse den Alleluia-Vokalisen angepaßt waren; es waren schon damals reichlich verderbte Verse. Wie deren Anblick mir erfreulich, so war ihr Schmack mir bitter. Immerhin begann ich in Nachahmung derselben zu schreiben: Lob singe vor Gott die ganze Erde, die gnadenschaft erlöst ist, und weiterhin: Der Drache, Adams Betrüger. – Als ich diese Verse meinem Lehrer Iso darbrachte, hat er unter Glückwünschen für meinen Eifer und im Mitleid mit meiner Unerfahrenheit zwar was gut erschien gelobt, das minder Gute jedoch berichtigen wollen, indem er sagte: Jede einzelne Melodiebewegung muß eine einzelne Silbe für sich haben. Wie ich das hörte, habe ich die Silben, die auf das ia kamen, glatt ausgebessert, dagegen die auf dem le und lu als eher unmöglich nicht einmal in die Hand nehmen mögen, da ich doch auch dies nachmals durch Übung als ganz leicht erkannte, wie [die Melodien] Dominus in Syna und Mater bezeugen. Und solchergestalt ausgerüstet dichtete ich alsobald in zweitem Ansatz: Psalliere die Kirche, die unversehrte Mutter.

Als ich diese Verslein meinem Lehrer Marcellus vorlegte, sammelte er sie freuderfüllt auf Einzelblättern und gab den Schülern, den einen die, den andern jene zum Singen auf. Wenn er mir dann sagte, ich solle sie zu einem kleinen Buche vereint einem der Großen als Geschenk darbringen, ließ ich mich schamgehemmt niemals hierzu bewegen.

Als mich aber kürzlich mein Bruder Othari bat, ich möchte doch etwas zu Eurem Preis schreiben, und ich mich solchem Werk mit gutem Grund nicht gewachsen erachtete, ward ich mühsam und ungern endlich doch soweit ermutigt, daß ich dies winzige und wertlose Bändchen Eurer Hoheit zu widmen mir erlaubte. Sollte ich erfahren, es sage Euch, gütig wir Ihr seid, in dem Maße zu, daß Ihr jenem meinem Bruder bei unserm Herrn, dem Kaiser, behilflich seid, so werde ich das metrische Gedicht, das ich eben über das Leben des heiligen Gallus beharrlich ausarbeite, obschon ich es meinem Bruder Salomo zuerst versprochen habe, Euch eilig übersenden, daß Ihr es prüfen, besitzen und ihm auslegen könnt.

the_abbey_of_st_gall

Wolfram von den Steinen
Notker der Dichter und seine geistige Welt

Bern
1948